Liverpool ist vor allem für zwei Dinge bekannt – mit den Beatles hat die Musik des Merseybeat die Welt erobert, und der FC Liverpool ist einer der bekanntesten Fußballvereine überhaupt. Aber was ist eigentlich mit der Stadt dahinter?
Ich war 2013 das erste Mal in Liverpool (zugegebenermaßen wegen Fußball). Vorher wurde ich vor der Stadt sogar gewarnt – runtergekommen und unfreundlich, hieß es. Ich habe schnell gemerkt, dass das so nicht stimmt, und auch einiges darüber gelernt, woher diese Vorurteile kommen. Heute ist Liverpool eine meiner Lieblingsstädte. Deswegen bildet Liverpool den Auftakt zu einer neuen Serie bei Giersch: Unterschätzte Städte!
Liverpool liegt im Nordwesten von England an der Mündung des Flusses Mersey. Früher gehörten die Docks von Liverpool zu den wichtigsten der Welt. An der historischen Waterfront ziehen auch heute drei helle Bauten, die „Three Graces“, die Blicke auf sich.
Allen voran das zentrale Royal Liver Building, auf dessen beiden Türmen zwei „Liver Birds“ stehen – mythische Vögel, das Wahrzeichen von Liverpool. Der eine schaut auf die Stadt, die andere aufs Meer hinaus und auf die zurückkehrenden Seeleute. Die Legende besagt: Sollten die beiden Vögel einmal fortfliegen, wird die Stadt untergehen. 2004 wurde die Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt; dieser Status wurde Liverpool allerdings 2021 wegen umstrittener Neubauprojekte an eben jener Waterfront wieder entzogen.
Managed decline?
Nicht nur an der Waterfront zeigt sich, dass Liverpool eine Stadt mit einer schwierigen Geschichte ist. Die Deindustrialisierung hat Nord-England hart getroffen: Arbeitslosigkeit und Armut. Zudem war die aufständische Arbeiter:innenstadt Liverpool ein Dorn im Auge der konservativen Thatcher-Regierung. Nach den Toxteth Riots 1981 wurde tatsächlich in Erwägung gezogen, die Stadt einem „managed decline“ zu überlassen – ein Begriff, der ursprünglich für bankrotte Unternehmen verwendet wurde, um sie möglichst kosteneffizient abzuwickeln.
Die Auswirkungen der Thatcher-Jahre und der Austeritätspolitik merkt man auch heute schnell, sobald man das Stadtzentrum von Liverpool verlässt. Zum Beispiel, wenn man aus der viel besungenen Ferry ‘cross the Mersey auf der Halbinsel Wirral aussteigt, oder wenn man in den Außenstadtteil Anfield fährt, um ein Spiel des FC Liverpools zu sehen, wo die umliegenden Wohnhäuser alles andere als Hochglanz versprechen.
You’ll Never Walk Alone
Wo wir gerade beim Fußball sind: In den harten 70er und 80er Jahren war der Erfolg des FC Liverpools einer der wenigen Lichtblicke für die Stadt. Aber auch den Stadtrivalen, den FC Everton, sollte wir nicht vergessen: Die beiden Stadien sind nur durch den Stanley Park getrennt – etwa ein Kilometer liegt dazwischen – und die Frage, ob man ein Red oder ein Blue ist, hat in der Stadt große Bedeutung.
Ein Ereignis, das Liverpool weit über Fußball und Trikotfarbe hinaus geprägt hat, ist die Stadionskatastrophe, bei der am 15. April 1989 in Hillsborough 96 Liverpool-Fans ums Leben kamen. Eine Reihe von Fehlentscheidungen hatte dazu geführt, dass eine Stehtribüne lebensgefährlich überfüllt wurde und dass medizinische Hilfe nicht schnell genug vor Ort war. Diese Fehler wurden lange vertuscht; stattdessen wurden die Fans für ihren Tod verantwortlich gemacht und die Überlebenden (und die ganze Stadt) diffamiert, zum Beispiel in der britischen Boulevardzeitung „Sun“.
Erst nach jahrelangen Mühen der Hinterbliebenen erkannte ein Gericht 2016 an, dass es kein Unfalltod (accidental death) gewesen war, sondern widerrechtliche Tötung (unlawful killing). Auch das war nicht das Ende dieser Geschichte, die die Stadt bis heute prägt: die Diffamierungen und Vertuschungen von den offiziellen Stellen, aber eben auch die Gewissheit, dass Leute aus Liverpool nie aufgeben.
Fortdauernder Neuanfang
Auch im Stadtzentrum gibt es ein Hillsbororugh Memorial, am unteren Ende von den St. John’s Gardens. Am oberen Ende stehen die Walker Art Gallery und die Zentralbibliothek, die nach umfassender Renovierung 2013 neueröffnet wurde. Möglich wurde das, weil Liverpool 2008 Europäische Kulturhauptstadt war. Diese Auszeichnung hat neben dem (zwischenzeitlichen) Weltkulturerbe-Status wieder mehr Geld und Tourist:innen in die Stadt gebracht und hatte wohl auch einen Anteil daran, dass Liverpool entgegen dem nordenglischen Trend im Brexit-Referendum mit 58,1% für Remain gestimmt hat.
Vom Dach der Bibliothek hat man außerdem einen guten Blick über die Stadt. Wer neben den Museen oder den Kathedralen noch andere Geheimtipps entdecken möchte, kann zum Beispiel den etwas anderen Reiseführer „Secret Liverpool“ von Mark und Michelle Rosney, konsultieren.
Abseits der Hauptstraßen
Es lohnt sich durchaus, einen Besuch in Liverpool nicht auf das Stadtzentrum (mit dem riesigen Shopping-Komplex Liverpool ONE), das Beatles Museum und das Stadium zu begrenzen. Rund um die Bold Street zum Beispiel reihen sich Cafés an kleine Läden. Neben den großen Museen lohnt sich auch ein Besuch in der Bluecoat Gallery. Falls man sich mal verlaufen sollte, macht das nichts – die locals sind sehr hilfsbreit und der Liverpooler Dialekt, „Scouse“, ist auch nicht so unverständlich, wie manche Engländer:innen das gerne behaupten.
Mit Liverpool könnt ihr also eine vibrierende und widerständige Stadt entdecken, die definitiv eine Reise wert ist. Wie Gerry and the Pacemakers schon wussten: ferry, cross the Mersey, cause this land’s the place I love, and here I’ll stay …
[…] Europareise. 1850 überquerte er als junger Mann den Atlantik und besuchte unter anderem England. Liverpool hinterließ bei ihm einen besonders starken Eindruck. Die Stadt war einst das Zentrum des […]