London, Berlin, Paris, New York, Barcelona – Romane über Städte gibt es viele. Aber manchmal ist die Story ohne die Stadt undenkbar, man könnte fast sagen, das urbane Setting spielt sogar die heimliche Hauptrolle. Wir haben unsere Bücherregale durchforstet und präsentieren pünktlich zum einsetzenden Herbst unsere Lese-Tipps aus der Giersch-Redaktion
1. London in “Neverwhere” von Neil Gaiman (Urban Fantasy, 1996)
Denkt man an Urban Fantasy, das Genre, das eine (Groß-)stadt mit Magie und fantastischen Wesen bevölkert, ist Neil Gaimans Roman von 1996 immer noch das erste Buch, das vielen Leser:innen als erstes in den Kopf kommt – ein Klassiker, an dem sich auch heute noch Genre-Autor:innen abarbeiten.
Der Plot um den Protagonisten Richard Mayhew, der in eine seltsame Gegenwelt mit Monsterjägerinnen, Engeln, Rattensprechern und Meuchelmördern gezogen wird, ist dabei fast sekundär. Der wahre Star der Story ist die Stadt und wie sich ihre kulturelle, historische und literarische Mythologie im “London Below” spiegelt. Nicht ohne Grund ist dem Buch eine Tube Map voraus gestellt, denn Londoner U-Bahn-Stationen wie Knightsbridge, Angel, Seven Sisters oder Blackfriar’s Bridge, die Bewohner:innen und Besucher:innen der Stadt aus ihrem Alltag kennen, gewinnen in “Neverwhere” ein fantastisches Eigenleben.
Das Buch (eigentlich die literarische Adaption einer von Gaiman geschrieben Fernsehserie) ist mittlerweile über 25 Jahre alt und in einigen Aspekten merkt man dem Text das auch an (die Darstellung obdachloser Menschen wurde z.B. verschiedentlich kritisiert). Aber auch wenn andere Autor:innen ihr magisches Gegen-London vielleicht sogar noch kreativer und surrealer in Szene setzen (ich denke da z.B. an China Mievilles “Kraken”), die Eleganz, das Tempo und die Nahtlosigkeit, mit der Realität und Phantastik in “Neverwhere” verbunden werden, gepaart mit Gaimans lakonischen Schreibstil, machen das Buch für mich persönlich noch immer zu einem Alltime-Favouriten.
(Martina)
2. San Francisco in „Tales of the City“ von Armistead Maupin (Fortsetzungsroman, 1978 – 2014)
Vor einiger Zeit spülte mir Netflix plötzlich eine Serie auf meine Startseite: Die Stadtgeschichten (Tales of the City). Was viele nicht wissen: Die Serie basiert auf einem Fortsetzungsroman aus den späten 1970er und 80er Jahren, beheimatet in der Traumstadt der Hippies: San Francisco.
In die Stadtgeschichten taucht man mit Mary Ann Singelton ein, die vom Land in die große Stadt kommt und erst einmal versucht, anzubändeln. Der Auserwählte entpuppt sich als schwul, Unterkunft findet sie in der Barbary Lane 28 bei Anna Madrigal, die Cannabis züchtet und ihre eigenen Geheimnisse hat. Die anderen Bewohner:innen, viele von ihnen queer, bilden bald eine „logische“ (nicht biologische) Familie. Leser:innen verfolgen über die zunächst sechs Bände, wie sie gemeinsam älter werden. Sie sind zwar, wie alle Soaps, nicht unbedingt realistisch, weil ihre Entstehung aber so nah am aktuellen Zeitgeschehen war, bieten die Stadtgeschichten einen authentischen Einblick in die queere Subkultur der Zeit. So gehören sie auch zu den ersten Texten, die die Aids-Epidemie thematisierten.
Für mich war es in den späten 90ern der erste Kontakt mit queerer Subkultur. Die Golden Gate-Bridge, die Cable Cars, das Wasser in der Stadt (gute Städte haben Wasser!). San Francisco war dank Star Trek und Charmed ohnehin ein Sehnsuchtsort und so fügte sich ein Bild für mich zusammen. Ich war immer noch nicht da, aber ich will unbedingt mal hin!
(Anja)
3. New York City in „The City We Became“ von N. K. Jemisin (Urban Fantasy, 2020)
In dieser Urban-Fantasy-Welt haben die Großstädte der Welt nicht nur eine Seele, sondern lebende Avatare. Und New York City hat fünf davon – eine Person für jeden Bezirk. Diese fünf Charaktere sind genauso unterschiedlich wie Manhattan, Brooklyn, The Bronx, Queens und Staten Island es nun einmal sind. Nun aber müssen sich zusammenraufen, um den primären Avatar der Stadt zu finden – und um eine große Bedrohung abzuwenden.
New York City spielt durch die Avatare literally die Hauptrolle in diesem Roman. Aber auch die Beschreibungen der einzelnen Bezirke und die detailreichen Atmosphäre der Stadt machen NYC zum absoluten Star einer Geschichte über das Überleben und Zusammenleben in der Großstadt.
Die sozialkritischen Diskurse in dem Buch sind manchmal zwar etwas sehr in your face, und auch in Sachen Pacing kann es nicht ganz mit Jemisins preisgekrönter Broken Earth Trilogie mithalten. Aber der Faszination von New York City können sich Lesende trotzdem schwer entziehen. Der zweite Band der Duologie, The World We Make, erscheint im November 2022.
(Jana)
4. Hamburg St. Pauli in “Sternstunden der Bedeutungslosigkeit” von Rocko Schamoni (Straßenliteratur, 2007)
Rocko Schamoni und Sankt Pauli führen eine intime Beziehung. Seit den 1980er Jahren kann man dem genialen Dilettanten auf den Straßen des Kiezes begegnen. Der Zeit und dem Ort, an dem “Sternstunden der Bedeutungslosigkeit” spielt.
Der Roman handelt von Michael Sonntag, einem Kunststudenten. Michael ist ein Loser – nicht nur nach den Maßstäben der Normgesellschaft – auch nach seinen eigenen. Er empfindet sich selbst als überflüssigen Menschen. Zum Studium kann er sich nicht aufraffen; dafür verbringt er umso mehr Zeit in den Straßen von Sankt Pauli und in zwielichtigen Bars; auf der Suche nach sich selbst.
Wer den Hamburger Kiez kennt, kann den Protagonisten auf einer mentalen Reise durch Sankt Pauli begleiten. Stresemannstraße, Heiligengeistfeld, Hans-Albers-Platz; Namen von Orten, die für Generationen von Hamburger:innen für durchzechte Nächte und benebelte Streifzüge stehen, geben sich in Schamonis Roman die Klinke in die Hand. Ü-50-Jährige können womöglich sogar einzelne Kneipen wiedererkennen, z.B. die legendäre Künstler-Kneipe “SUBITO”, im Roman “Nasenbär” genannt. In der Souterrain-Kneipe gingen einst Leute wie Bernd Begemann, Bela B. und Nick Cave ein und aus.
Geht es in “Sternstunden der Bedeutungslosigkeit” um Michael Sonntag? Auch. Vor allem geht es um Hamburg Sankt Pauli, und die Rolle, die der Stadtteil für viele verlorene Seelen spielt. Für mich, die ich mit dem Kiez groß geworden bin, aber mittlerweile nicht mehr jede Nacht dort verbringe, eine gute Lektüre. Sie bringt mich zurück an die lokalen und mentalen Orte meiner 20er.
(Eva)
5. New York City in „The Basketball Diaries“ von Jim Carroll (Tagebuch, 1963)
Eigentlich ist Leonardo DiCaprio schuld an diesem Literaturtipp. Ich war 12 oder 13, als ich das „Buch zum Film“ in die Hand nahm, und schwer in den damals noch aufstrebenden Star verliebt. Der spielte 1995 die Hauptrolle in der gleichnamigen Tagebuchverfilmung. Leo sah darin die meiste Zeit sehr schön aus und das dreckige New York der 60er, dass hier die heimliche Hauptrolle spielte, fesselte mich ungemein.
Ich saß derweil im Kinderzimmer in meinem kleinen westfälischen Heimatdorf und sehnte mich nach Freiheit und Abenteuer. In den Tagebuchauszügen des späteren Poeten und Musikers las ich von Carrolls Jugend in der Großstadt, der als aufstrebendes Basketballtalent mit seinen Freunden durch New York City marodiert, erst Klebstoff schnüffelt und später zu härteren Drogen greift.
Während ich vom Abrutschen des im Text etwa gleichaltrigen Jim Carrolls in die Heroinsucht las, beschränkten sich meine jugendlichen „Drogeneskapaden“ allerdings auf heimlich gekaufte Marlboro und Pfirsichlikör aus Muttis Vorrat. Im Nachhinein bin ich ganz zufrieden, dass mein Leben anders verlaufen ist, damals war ich fasziniert von Carolls deutlich abenteuerlicheren Schilderungen.
Die Tagebuchauszüge umfassen einen Zeitraum von drei Jahren, vom Herbst 1963 bis zum Sommer 66, als New York noch arm, gefährlich und dreckig war. Carroll beschreibt sein damaliges Teenagerleben zwischen Kleinkriminalität und Weltpolitik mit Witz und Wahrhaftigkeit. Auch heute noch ist der detaillierte Einblick in das Lebensgefühl dieser Zeit und Stadt faszinierend, wie eine kleine Zeitreise.
(Christina)
6. Hamburg in „Die Muskeltiere“ von Ute Krause (Kinderbuchreihe, seit 2014, noch nicht abgeschlossen)
Die Maus Picandou lebt in einem Feinkostgeschäft in Hambug. Eines Abends findet er eine Ratte mit Gedächtnisverlust, die er Gruyère nennt. Später stolpert ihnen noch Ernie, die Hafenkneipenmaus in die Hütte, die auch gleich umbenannt wird in Pomme de Terre. Gemeinsam versuchen sie das Rätsel um Gruyères Vergangenheit zu lösen. Der Fall lässt sich aber nur mithilfe des Goldhamsters Bertram von Backenbart meistern, der sich gleich in die Abenteurertruppe verliebt. Sie erinnern ihn an die Geschichten der „Muskeltiere“, die er in seinem Goldkäfig so oft mitgehört hat. Die vier schaffen es tatsächlich Gruyéres Geschichte aufzudecken und den Feinkostladen vor dem drohenden Bankrott zu retten. Gemeinsam werden sie noch viele Fälle und spannende Situationen meistern, denn die „Muskeltiere“ halten immer zusammen.
Die Geschichten sind spannend und gleichzeitig auch für zartere Kindergemüter geeignet. Der Vierjährige findet gut, dass „da Mäuse und Hamster dabei sind und eine Ratte. Die heißen Muskeltiere und die Geschichte spielt in Hamburg. Es ist cool, dass ich die Plätze kenne, die in den Geschichten vorkommen.“ Uns Erwachsenen trieft aufgrund des zarten Witzes und Lokalkolorits auch nicht das Hirn aus den Ohren, im Gegenteil fiebern auch wir mit den kleinen Nagern mit.
(Christina)