Brutalismus – das sind graue Betonwände aus den 60ern, klobige Gebäude-Dinosaurier in den Innenstädten, die zwischen Altbau-Chic und postmodernen Glasfassaden wie aus der Zeit gefallen wirken. Und doch erlebt der Baustil seit einigen Jahren ein Revival – zumindest wenn es ums Internet geht.
Die New York Times schrieb schon 2016 “Brutalism is back”, Star-Galerist Johann König verlegte seine Berliner Galerie 2015 in die ehemalige Kirche St. Agnes in Kreuzberg, einen Betonklotz aus dem brutalistischen Bilderbuch. “Coffee Table”-Bildbände mit stilvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Betonmonster gibt es in jeder Kunstbuchhandlung. Und bei Instagram spuckt der Hashtag “Brutalism” 9 Millionen Beiträge von russischen Plattenbauten über Bushaltestellen in Kasachstan und Londoner Unibauten bis hin zu abstrakten Kriegsdenkmälern im ehemaligen Jugoslawien aus. Nicht alles davon ist tatsächlich brutalistische Architektur – die Liebe des Internets zu Architekturformen, die jahrzehntelang als Inbegriff des Hässlichen galten, Relikte einer veralteten Moderne, wird jedoch mehr als deutlich.
Brutalismus kommt nicht von “brutal”: Definition eines Baustils
Aber was ist das denn jetzt, Brutalismus? Auch wenn die Bauwerke brutal aussehen, mit gewalttätiger Architektur hat die Bauform nichts zu tun. Denn das Wort leitet sich vom französischen “beton brute” ab. Damit ist der unverputzten graue Sichtbeton gemeint, der so typisch für die westliche Architektur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist.
Erstmals kam der Begriff des “beton brute” in Bezug auf die “Unité d’Habitation” in Marseille auf. Diese modularen Wohneinheiten wurden 1947 nach Plänen von Le Corbusier mit Fassaden aus eben solchem Sichtbeton errichtet. Der englische Architekturkritiker Reyner Banham schrieb 1955 den Essay “The New Brutalism” und dann 1966 “The New Brutalism: Ethic or Aesthetic?” – New Brutalism war hier noch als Anspruch an eine “ehrliche” Architektur gedacht, die ihre Beton-und-Stahl-Materialität nicht verleugnete und auch soziale Aspekte in der Konstruktion ihrer Bauten mitdachte.
Wenn wir heutzutage von Brutalismus sprechen, ist meist allgemein die Architektur zwischen etwa 1960 und 1980 gemeint, die von großen Sichtbetonflächen und wuchtigen geometrischen Formen geprägt ist. Bekannte Beispiele sind das Barbican Arts Centre in London und die Boston City Hall, aber auch der “Mäusebunker”, die Forschungseinrichtung für experimentelle Medizin der Charité, und die tschechische Botschaft in Berlin oder die mittlerweile abgerissene “Postpyramide” in Hamburg.
Ab Ende der 70er Jahre verlor der brutalistische Baustil langsam an Popularität. Schon 1971 hatte Stanley Kubrick die brutalistische Architektur des Londoner Südens als Kulisse für die dystopische Handlung in “Clockwork Orange” inszeniert. Am Ende der Dekade hatten die Bauten dann ihren Ruf als trostlose, menschenfeindliche Anti-Architektur weg und wurden ab den 80ern vom “anything goes” des verspielten postmodernen Baustils ersetzt.
Brutalism is back: Comeback mit Ecken und Kanten
Und warum findet man Brutalismus jetzt wieder cool? Eine schöne Antwort gibt ein Artikel in der US-amerikanischen “GQ” “Brutalismus ist die Techno-Musik der Architektur, schonungslos und einschüchternd”. Ähnlich wie Minimal Techno liefert der Architekturstil eine Reduktion auf das Wesentliche. Das mag nicht jedermanns Geschmack sein, aber Kenner:innen schätzen es dafür um so mehr.
Und natürlich sehen die Bauten, an denen so lange vorbeigeschaut wurde, einfach toll aus. Mit ihren wuchtigen Betonflächen, abgefahrenen Winkeln und den teilweise jegliche Funktionalität sprengenden Designs sind sie das Gegenteil der sleeken, postmodernen Glasfassaden und braven neo-preußischen Kastenbauten, die heutzutage die Großstädte prägen. In der brutalistischen Architektur wird ein Postamt schon mal zur Blade-Runner-esken Pyramide, ein Hotel zum raumschiffartigen Sci-Fi-Konstrukt und eine Kirche ein monolithisches Monster ohne sichtbare Fenster und Türen. Diese raumgreifende sperrige Architektur will nicht nur funktionieren, sie will ungeteilte Aufmerksamkeit.
Einen interessanten Aspekt, warum die brutalistischen Bauwerke heutzutage mit neuen Augen gesehen werden, thematisiert der große Brutalismus-Artikel in der New York Times. Vor allem aus US-amerikanischer Perspektive ist diese Architektur auch Ausdruck einer politischen Haltung. Die oft von öffentlicher Hand geförderten Bauten wie Rathäuser, Kirchen, Universitäten oder Kulturzentren, bei deren Errichtung sich die Architekt:innen austoben durften, sind demnach auch Symbol eines starken Sozialstaates, der in Infrastruktur für seine Bewohner:innen investiert.
Ein Text aus der Süddeutschen fasst es schon 2017 zusammen: “Vereinfacht gesagt, wollten die Architekten des Brutalismus Bauten für die Massen machen: Bauten, die wie Skulpturen für eine selbstbewusste Demokratie, eine klassenlose Gesellschaft waren. Die Vertreter des Brutalismus wollten die Städte für alle gestalten, ihre Auftraggeber waren oft die Kommunen, der Brutalismus sollte das Alte, das Elitäre, das Glatte und Unverbindliche hinwegfegen.”
Vielleicht rührt die Attraktivität der schroffen Betondinosaurier also auch daher, dass sie nicht nur ästhetisch, sondern auch sozialpolitisch eine Antithese zu den spätkapitalistischen Hochglanz-Oberflächen unserer Gegenwart darstellen.
Einsturzgefährdete Neubauten: Brutalismus im 21. Jahrhundert
Brutalismus funktioniert im Jahr 2021 zwar gut auf Instagram und Pinterest, wirklich so bauen tut dann aber doch niemand. Und in so einem Gebäude zu leben scheinen auch nur die wenigsten zu wollen. Der kulturbeflissene Mensch legt sich vielleicht einen Brutalismus-Bildband auf dem Couchtisch, aber wohnen tut man dann doch lieber in der stuckverzierten Altbauwohnung oder im Neubau mit bodentiefen Fenstern.
Der Unwillen gegenüber der architektonischen Realität kommt nicht von ungefähr. Brutalistische Bauten sind schwer zu modernisieren und noch schwerer zu erhalten. Oft stecken sie voller Asbest, der von den 1950er bis in die 1990er Jahre noch fröhlich als Dämmstoff verwendet wurde. Auch der Beton rottet vor sich hin. Dass sich an den korrodierten Kanten ausgetropfte Stalaktiten bilden, ist keine Seltenheit.
Das Brutalismus-Revival ist dann doch eher ästhetisches Statement. In den sozialen Medien wird brutalistische Architektur ebenso an der Oberfläche rezipiert wie pittoresk-verfallene “Lost Places”, cyberpunkiges 80er-Jahre-Neon oder dystopische “sowjectcore”-Plattenbauästhetik.
Doch auch mit seiner seiner primär medialen Präsenz trifft der brutalistische Retro-Optimismus einen kulturellen Nerv. Die neue Sensibilität für Brutalismus führt auch zu einer Neubewertung in Sachen Denkmalschutz. Wurden die Betonkolosse oft schonungslos abgerissen, um Platz für Neues zu machen (wie es trotz Proteste 2014 mit dem AfE-Turm in Frankfurt am Main und 2017 mit der Hamburger Postpyramide geschah), gibt es mittlerweile Projekte wie SOS Brutalismus, die sich für den Erhalt und die Sanierung brutalistischer Architektur einsetzen, sodass die schroffe Pracht solcher Bauten auch weiterhin in den Städten und nicht nur auf Fotos erhalten bleibt.
Hier findet ihr brutalistische Architektur:
- In Berlin: z.B. der “Mäusebunker” in Lichterfelde, der “Bierpinsel” in Steglitz, die ehemalige Kirche St. Agnes (heute Galerie Johann König) in Kreuzberg. Eine schöne Übersichtskarte gibt es hier und Stadtführungen zu brutalistischen Architekturikonen in der Hauptstadt könnt ihr z.B. hier buchen.
- In Hamburg: z.B. die Bundesbank Hauptverwaltung an der Willy-Brandt-Straße, die Kirche “der gute Hirte” in Jenfeld, brutalistische Wohnarchitektur am Gebäude Pöseldorfer Weg 8, die “Klorolle” St. Maximilian Kolbe Kirche in Wilhelmsburg
- In Frankfurt am Main: z.B. die neue Mensa Campus Bockenheim
- In Hannover: z.B. das Ihme-Zentrum in Linden