Urban Mental Health: Was die Stadt mit unserer Psyche macht

Durch ein vergittertes Milchglasfenster ist schemenhaft eine Treppe zu sehen.
Foto: Malte Fleuter

Stadtluft macht frei, heißt es. Und tatsächlich gibt es viele gute Gründe, das Stadt- dem Landleben vorzuziehen. Bessere Chancen auf persönliche Entfaltung, bessere Bildungs- und Karriereoptionen, eine bessere Gesundheitsversorgung und ein besseres Kulturangebot, zum Beispiel. Ist also alles besser in der Stadt? Nicht ganz: Was die psychische Gesundheit der Bewohner:innen angeht, schneidet die Stadt schlechter ab als das Land. Warum das so ist, damit befasst sich der Forschungszweig Urban Mental Health.

In der Stadt steigt das Risiko für psychische Erkrankungen

Stadtbewohner:innen leiden häufiger an stressabhängigen psychischen Erkrankungen als Menschen auf dem Land, so Mazda Adli und Jonas Schöndorf in ihrem Beitrag Macht uns die Stadt krank?. Bestimmte Krankheiten kommen im urbanen Raum besonders oft vor:

  • Schizophrenie: + 100 Prozent / + 200 Prozent bei Menschen, die nicht nur in der Stadt wohnen, sondern auch dort aufgewachsen sind 
  • Psychotische Erkrankungen: + 77 Prozent 
  • Affektive Störungen: + 39 Prozent
  • Depression: + 20 Prozent
  • Angsterkrankungen: +21 Prozent

Ziehen mehr erkrankte Menschen in die Stadt?

Warum leiden  Menschen in der Stadt häufiger an psychischen Erkrankungen? Dazu gibt es zwei Theorien. Eine davon ist die Selektionshypothese. Die Selektionshypothese besagt, dass Menschen mit psychischen Problemen bevorzugt in die Stadt ziehen. Ein Grund dafür könnte die bessere gesundheitliche Versorgung sein. 

Einer, der eben deshalb in die Großstadt gezogen ist, ist Dennis. Dennis ist 48 Jahre alt und leidet seit seiner Pubertät an Depressionen. In seinen Zwanzigern studierte er in Cottbus Sozialarbeit. In dieser Zeit erreichte sein gesundheitlicher Zustand einen Tiefpunkt und er beschloss, sich Hilfe zu suchen. Cottbus ist mit heute 100.000 Einwohnern kein Dorf. Dennoch war das Hilfsangebot für Menschen mit psychischer Belastung begrenzt.

“Ich habe von meiner Krankenkasse eine Broschüre mit Angeboten bekommen und mehrere davon ausprobiert. Ich war zum Beispiel in einer Tagesklinik, aber die Einrichtung war auf Menschen mit Drogen- und Alkoholproblemen spezialisiert. Das hat zu meiner Situation nicht gepasst. Ein anderes Mal wollte ich mich an die psychologische Hilfe des Studentenwerks wenden. Aber als ich ins Gebäude kam und nach dem Raum suchte, war da nichts außer einem abgefallenen Türschild. Letztlich habe ich eine Psychotherapie angefangen. Leider konnte ich sie nach den ersten vier Sitzungen nicht fortführen, weil die Therapeutin keine Krankenkassenzulassung hatte und ich die Kosten selber hätte zahlen müssen.”

Also beschloss Dennis nach Hamburg zu gehen. In der psychosomatischen Klinik Ginsterhof fand er einen Therapieplatz. Danach beschloss er in der Großstadt zu bleiben. Sein Wiedereinstieg ins Berufsleben verlief zunächst holprig. Er machte zwei Wiedereingliederungsmaßnahmen ins Berufsleben, dann einen 1-Euro-Job, schließlich fing er eine Umschulung zum Veranstaltungstechniker an. Mit seiner Depression hatte er Schwierigkeiten, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. “Ich hatte zwei Möglichkeiten: Erwerbsunfähigkeitsrente oder Behindertenarbeitsplatz.” 

Dennis entschied sich für den Behindertenarbeitsplatz. Heute arbeitet er bei barner 16, einem inklusiven Künster:innenkollektiv in Hamburg Altona. Da Dennis musikbegeistert ist, ist dieser Job für ihn ein Glücksgriff. Während der Arbeitszeit unterstützt er inklusive Bands wie Station 17, in seiner Freizeit legt er Platten auf: in der Tortuga Bar und in der Bar Eldorado auf dem Hamburger Kiez.

Menschen laufen über eine Straße auf eine U-Bahn-Station zu.Quelle: Malte Fleuter
Das Leben in der Stadt bietet Perspektiven; auch für Menschen mit psychischen Problemen.

Vertreibt sozialer Druck Menschen aus dem Dorf?

Ein weiterer Grund, warum Menschen mit psychischer Belastung vom Land in die Stadt ziehen, könnte der soziale Druck sein, der auf dem Land herrscht. Zur Belastung wird er für diejenigen, die von der Norm abweichen. Andersdenkende, Andersliebende, Anderssprechende, zum Beispiel. Sie laufen Gefahr, aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen zu werden. In der Stadt hoffen sie auf ein toleranteres, weltoffeneres Umfeld. Maraike hat diese Erfahrung gemacht.

„Ich bin den 1980ern in einem kleinen niedersächsischen Dorf aufgewachsen. Kein hübsches Dorf in schöner Natur, sondern ein langgezogenes Straßendorf umgeben von Landwirtschaftsflächen und kargem Heidesand. Noch heute versetzt mich Heide in eine depressive Stimmung. Ich bin mit Tieren aufgewachsen, hatte Hund und Katze, bin mehrmals in der Woche geritten, die Milch kam direkt vom Bauern, bei dem die Kälbchen an meinem Daumen genuckelt haben. 

Das klingt vielleicht idyllisch und ist sicherlich auch mit Privilegien verbunden – allerdings waren Tiere auch über sehr viele Jahre hinweg meine einzigen Freunde. Ich war ausgegrenzt. Vielleicht weil meine Familie nicht aus der Gegend stammte, keine Lust auf Landfrauengruppe, Schützenverein oder Freiwillige Feuerwehr hatte – sprich, keinen Bock auf Integration – und vielleicht auch weil ich irgendwie anders war, „gar kein richtiges Mädchen,“ wie ein Mitschüler einmal zu mir sagte. 

Damals gab es natürlich noch kein Internet und so habe ich mich wirklich komplett allein auf der Welt gefühlt. Ich erinnere mich daran, dass ich schon als kleines Kind Bauchkribbeln hatte, wenn wir im Auto über die Elbbrücken gefahren sind, um die Großeltern zu besuchen. In einem Alter, in dem ich noch gar keinen Begriff von Abenteuer hatte, hat mir der bloße Anblick von Stadt schon ein Vorgefühl von Abenteuerlust bereitet. Ich liebe Natur genauso wie ich brodelnde Metropolen liebe, aber Dorfleben, das ist eine Kultur, die mich beklemmt.“

Idyllisches Land: Auf einem Feld wächst Korn. Darüber erstreckt sich blauer Himmel.Quelle: Malte Fleuter
Schön mit Abstrichen: Wer aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen ist kann das Landleben nicht genießen.

Oder macht uns die Stadt krank?

Die zweite Theorie, warum mehr Menschen mit psychischer Erkrankung in der Stadt leben, ist die Kausalhypothese. Sie geht davon aus, dass es das Stadtleben selbst ist, was die Menschen krank macht. Für die Kausalhypothese spricht, dass es bei bestimmten psychischen Erkrankungen einen Dosis-Wirkungs-Zusammenhang gibt. Kurz gesagt: Je länger Menschen in der Stadt leben, desto höher das Risiko, dass sie eine stressabhängige psychische Erkrankung erleiden. Dies gilt zum Beispiel für die Schizophrenie: Bei Kindern, die bis zum 15. Lebensjahr von der Stadt aufs Land ziehen, sinkt das Erkrankungsrisiko. Je kleiner das Zeitfenster, in dem sie ein Stadtleben geführt haben, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass eine Schizophrenie ausbricht.

Das Hauptproblem ist sozialer Stress

Warum macht uns die Stadt krank? Ein wichtiger Faktor ist der soziale Stress, also Stress, der zwischen dem Individuum und seiner Umwelt entsteht. Diese Faktoren führen in der Stadt besonders häufig zu sozialem Stress:

  • Soziale Dichte: In der Stadt wimmelt es von Menschen. Ob auf der Straße, in der Bahn oder in der Supermarktschlange: Ständig sind wir mit Menschenmassen konfrontiert, die uns physisch auf die Pelle rücken. Das verursacht Territorialstress. 
  • Soziale Isolation: Obwohl man von Menschen umringt ist, gelingt es nicht, positive soziale Kontakte zu knüpfen. Soziale Isolation und Einsamkeit sind die Folge. Besonders häufig betroffen sind Singles, Senior:innen und Zugezogene.
  • Diskriminierung: Nicht nur auf dem Land, auch in der Stadt gibt es Dikriminierung. Je homogener die Bevölkerungsstruktur, desto häufiger tritt das Phänomen auf. Vor allem Angehörige sichtbarer Minderheiten, zum Beispiel People of Colour, sind Stress durch Diskriminierung häufiger ausgesetzt und leiden dadurch häufiger unter psychischen Erkrankungen.
  • Armut: In deutschen Großstädten ist die Armutsquote höher als im Bundesdurchschnitt. Die materielle Not verursacht Stress auf vielen Ebenen. Arme Menschen ringen um existenzielle Dinge wie Wohnraum, Essen und gesundheitliche Versorgung. Außerdem laufen sie Gefahr ausgegrenzt zu werden, da ihre Möglichkeiten, am sozialen Leben teilzuhaben, begrenzt sind. 
  • Nachbarschaftsarmut: In der Nähe von Armen zu wohnen verursacht noch mehr Stress, als selbst arm zu sein. Grund dafür ist die Angst vor einem sozialen Abstieg. Dieses Risiko wird als besonders unkontrollierbarer Stressor wahrgenommen. Menschen mit Migrationshintergrund leiden unter diesem Stress verhältnismäßig stärker als Menschen ohne Migrationshintergrund.

Nicht alle Stadtbewohner:innen sind von den oben genannten Stressoren gleichermaßen betroffen. Wohlhabende sind nicht auf sozialen Wohnungsbau angewiesen. Bewohner:innen besserer Viertel kriegen weniger soziale Abstiege in ihrem direkten Umfeld mit. Und SUV-Fahrer:innen sind nicht mit Menschenmassen im ÖPNV konfrontiert. Je besser Stadtbewohner:innen situiert sind, desto eher bleiben sie von den Nachteilen des Stadtlebens verschont. Gefährdet sind die Menschen in ärmeren Stadtteilen. Sie stehen im Fokus der Urban-Mental-Health-Forschung.

Die Suizidrate ist in Städten niedriger

Das Risiko eine stressabhängige psychischen Erkrankung zu erleiden ist in der Stadt höher. Beim Suizidrisiko zeigt sich eine entgegengesetzte Tendenz. Obwohl es auf dem Land verhältnismäßig weniger psychisch kranke Menschen gibt, ist die Suizidrate höher als in der Stadt. Wissenschaftler:innen vermuten hinter der erhöhten Suizidrate im ländlichen Raum vor allem drei Gründe: 

  1. Auf dem Land ist die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung ungleich schlechter als in der Stadt. Hilfesuchende müssen mit langen Wartezeiten rechnen.
  2. Psychische Erkrankungen sind stärker stigmatisiert. Die Hürde, sich zu öffnen und Hilfe einzufordern, ist höher als in der Stadt. 
  3. Der Zugang zu tödlichen Werkzeugen wie zum Beispiel Pestiziden und Waffen ist auf dem Land leichter. Letzteres gilt in erster Linie für die USA.

Urban Mental Health erforscht, wie Stadtleben die Psyche stärken kann

Das Leben in der Stadt ist komplex und manchmal stressig. Wie der Stadtsoziologe Richard Sennett herausgefunden hat, kann der Stress aber auch positive Auswirkungen auf die Stadtbewohner:innen haben. Kinder und Jugendliche, die in der Stadt leben, wachsen seiner Beobachtung nach häufiger zu sozial kompetenten Individuen heran. In diesen Fällen wirkt der Stress stimulierend und erlaubt den Menschen, sich zu entwickeln.

Ob das Stadtleben überhaupt eine Gefahr für die psychische Gesundheit seiner Bewohner:innen darstellt, hängt von zwei Faktoren ab: 1. dem Lebensstil, den die urbanen Menschen pflegen (können), und 2. der materiellen Beschaffenheit der Stadt, also dem Built Environment.

Das Centre for Urban Mental Health in Amsterdam untersucht aktuell in einer Vielzahl von Projekten, wie sich eine Änderung des Lebensstils positiv auf die psychische Gesundheit von Stadtbewohner:innen auswirken kann. Sind von Depression gefährdete Jugendliche gesünder, wenn sie häufiger Sport treiben? Welche Rolle spielt Sucht bei der Ausbildung von Depressionen? Wie ist es möglich, in der Stadt gesund zu altern? Antworten auf diese Fragen werden mit Spannung erwartet. 

Die Disziplin Urban Mental Health Design beschäftigt sich mit dem Built Environment, also mit der Frage, wie der urbane Raum so gestaltet werden kann, dass er die Psyche der Menschen stärkt statt sie anzugreifen. Grünflächen, Begegnungsstätten und Lärmschutz spielen dabei eine Rolle. Sie sollen den sozialen Stress verringern, Teilhabemöglichkeiten schaffen und ein gesünderes Leben für alle ermöglichen. 

1 Kommentar

  1. […] wehren. In diesem Fall führt soziale Durchmischung zu sozialem Stress, wie der Forschungsbereich Urban Mental Health herausgefunden […]

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