Gartenstadt – ist das nicht so ein hübscher Stadtmarketing-Begriff für ein paar Parks und viel Grün zwischen den Häusern? Nicht ganz. Die Wurzeln der Gartenstadt-Idee liegen viel tiefer: Über eine Idee, mit der vor über hundert Jahre das Konzept „Stadt“ neu gedacht wurde und die bis heute nachwirkt.
Die Großstadt abschaffen: Ebenezer Howards Vision der Gartenstadt
Um das Konzept Gartenstadt zu definieren, muss man bei Ebenezer Howard anfangen – der britische Stadtplaner, der seine Karriere als Büroangestellter begann, entwickelte 1898 einen Gegenentwurf zu den überfüllten, verdreckten Industriemetropolen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sein Ideal: eine Entlastung der verstopften Innenstadt und ein gesundes Leben im Grünen für die Londoner Arbeiter:innen.
In seinem Buch „To-morrow – A Peaceful Path to Real Reform“ (in der zweiten Auflage dann „Garden Cities of To-morrow“ betitelt) entwarf er ein sozialreformerisches Konzept kleiner, von Grün durchzogenen Siedlungen, die die Vorteile von Stadt- und Landleben miteinander verbinden sollten. Diese „Garden Cities“ wären Neugründungen auf Agrarland. Durch Bahnstrecken verbunden sollten sie eine Großstadt ringförmig umgeben, um so das rasante Wachstum des urbanen Raums aufzufangen.
Im Zentrum ist es grün: Struktur der klassischen Gartenstadt
Zentrum von Howards Gartenstädten sollte ein Park sein, von dem aus strahlenförmige Boulevards die Stadt erschlossen. Im grünen Zentrum befanden sich die öffentlichen Gebäude für alle Einwohner:innen gut erreichbar. Darum herum lagen in konzentrischen Ringen durch Grüngürtel getrennte Wohnringe mit kleinen Häusern und Gärten. Und schließlich war außen Platz für Industrie und Gewerbe.
Jede dieser Gartenstädte sollte nicht mehr als 32.000 Einwohner:innen haben und sich mit ihrer eigenen Infrastruktur selbst versorgen können. Es handelte sich also nicht um von der Großstadt abhängige „Schlafstädte“, wie sie im 20. Jahrhundert aufkamen. Des Weiteren sollten Howards Gartenstädte genossenschaftlich organisiert sein. Das Gelände einer Gartenstadt war kein Privateigentum, sondern genossenschaftlicher Gemeinbesitz. Die Bewohner:innen sollten in der Stadt mitbestimmen können und lebenslanges Mietrecht genießen. Eine Trennung von Reichen- und Armenvierteln war in Howards egalitärer Vision ausgeschlossen.
Von der Utopie zur architektonischen Realität
Howards Gegenentwurf zur industrialisierten Großstadt fiel in England auf fruchtbaren Boden. Die unmenschlichen Lebensbedingungen der Arbeiter:innen in den Fabriken und Slums des britischen Empires waren bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von Marx und Engels angeprangert worden. Der Amerikaner Henry George beschrieb in „Progress and Poverty“ sozialreformerische Ideen angesichts des Armutselends in den Vereinigten Staaten. Und das Arts & Craft Movements und William Morris utopischer Roman „News from Nowhere“ träumten von einer menschenfreundlicheren Welt, in der sich Mensch und Natur wieder annähern und Arbeit sinnstiftend, kreativ und erfüllend sein kann.
Auch der Waliser Textilmanufakturist Robert Owen, Begründer der Genossenschaftsbewegung, der die Arbeiter:innensiedlung New Lanark in Schottland gründete, stand unter dem Einfluss von Howard. Ebenfalls prägend für die Idee, Arbeiter:innen aus der Stadt herauszuholen, waren die außerstädtisch gelegenen Werksiedlungen wie die der Cadbury-Werke bei Birmingham oder Port Sunlight bei Liverpool.
Inspiriert von Howards Theorien organisierte sich die „Gartenstadtbewegung“ (Garden City Movement). Wohlhabende, philanthropische Anhänger:innen der Bewegung brachten die finanziellen Mittel zur Gründung der ersten echten Gartenstadt auf: Letchworth Garden City in Hertfordshire. 1920 folgte die zweite Gartenstadt nach Howards Prinzipien: Welwyn, ebenfalls in Hertfordshire.
„Echte“ Gartenstädte nach genossenschaftlichen Prinzipien blieben allerdings rar. Zwar wurde Howards Idee, durch Neugründungen außerhalb der Großstädte Wohnraum im Grünen zu schaffen, nicht nur für die Villen der Reichen, sondern auch für Arbeiter:innen weiterverfolgt. Die vielen „New Towns„, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Vereinigten Königreich auf der grünen Wiese gegründet wurden, waren aber zum Beispiel keine Genossenschaften mehr.
Gartenstädte in Deutschland
Im Zuge der vielen Reformbewegungen um die Jahrhundertwende fand die Idee der Gartenstadt auch in Deutschland Anklang. Schon im 19. Jahrhundert war es populär geworden, an den grünen Stadtrand zu ziehen. Hier ging es allerdings noch um das Wohnen für Wohlhabende in Villenvierteln an den Rändern von Hamburg, Berlin oder Dresden.
1902 entstand in Berlin die sozialreformerisch orientierte „Deutsche Gartenstadt Gesellschaft“ (DGG). Wohnungen mit eigenen Garten und genossenschaftliches Eigentum waren für sie selbstverständlicher Teil des Konzepts. „Eine Gartenstadt ist eine planmäßig gestaltete Siedlung auf wohlfeilem Gelände, das dauernd in Obereigentum der Gemeinschaft gehalten wird, derart, dass jede Spekulation mit dem Grund und Boden unmöglich ist,“ hieß es in ihren Statuten. 1903 versuchte die DGG diese Prinzipien in der Siedlung Schönblick bei Berlin anzuwenden.
Wie in England löste sich die Gartenstadt allerdings auch in Deutschland bald von Howards sozialreformerischer Utopie. Zuerst entstand jedoch, auch inspiriert von einer Reise der DGG zu den englischen Gartenstädten im Jahr 1909, eine Reihe von Siedlungen nach klassischen gartenstädtischen Prinzipien.
Zu den Gartenstädten in Deutschland zählen unter anderem:
- Hellerau bei Dresden: zwischen 1906 und 1909 errichtet und die erste vollständige Gartenstadt in Deutschland.
- Karlsruhe Rüppurr: 1905 nach den klassischen englischen Prinzipien gegründet und genossenschaftlich organisiert.
- Thelottviertel in Augsburg: 1907 begonnen und 1929 fertiggestellt.
- Krupp-Siedlung Margarethenhöhe in Essen: Die zwischen 1906 und 1938 errichtete Arbeiter:innensieldung wurde von der Industriellengattin Margarethe Krupp gestiftet und gilt oft als erste deutsche Gartenstadt. Sie war jedoch nie als genossenschaftlich organisierte Siedlung geplant.
Von der Gartenstadt nach Suburbia
Direkt nach dem Ersten Weltkrieg entstanden am Rande deutscher Großstädte verschiedene genossenschaftlich organisierte Siedlungen mit Selbstversorger-Grundstücken. Aufgrund von Wohnraumbedarf und zerstörter Infrastruktur folgten diese einfachen Wohngegenden den Gartenstadt-Prinzipien, aber eher aus der Not heraus als aufgrund von stadtplanerischen Idealen. So zum Beispiel die Siedlung „Daheim“ in Berlin-Mariendorf.
Die Idee der geplanten, auf Agrarland neu errichteten Stadt, fand in der NS-Zeit eine unheilvolle Fortsetzung. Im Zuge des „Generalplans Ost“, mit dem die Nazis Osteuropa kolonisieren wollten, stellte Hans Bernhard Reichow Entwürfe für „Stadtlandschaften“ auf, die Eigenschaften von städtischen und ländlichen Raum ähnlich den Gartenstädten verbinden sollten.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Einfluss der Gartenstädte auf die Architektur westlicher Stadträume bestehen. Das Einfamilienhaus mit Garten als deutsches Wohnideal für Jedermann folgt im Grunde der Vision der Gartenstadt. Die in der englischen Gartenstadt angelegte Flucht aus der Innenstadt findet im US-amerikanischen Suburbia ihre Vollendung im Extrem: Um vom Haus mit Garten zum Supermarkt oder zum Arbeitsplatz zu gelangen, müssen mit dem Auto weite Distanzen zurückgelegt werden.
Heute gibt es in vielen deutschen Städten Stadtteile, die „Gartenstadt“ heißen, zum Beispiel in Hamburg-Wandsbek, Nürnberg oder Ludwigshafen – teils sind das tatsächlich noch Gründungen aus der Zeit der DGG. Viele Viertel haben sich im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts stadtplanerisch jedoch weit vom Ursprungszustand entfernt. Oft sind sie von „Edgelands“ statt von Ackerland umgeben und in die Stadtfläche einbezogen worden. Und manchmal wird der Begriff „Gartenstadt“ auch einfach nur verwendet, weil er so schön zum Hausbau im Grünen passt.
Viele Ideen der Gartenstadtbewegung sind heute jedoch fester Teil der Vorstädte der westlichen Welt. Zum Beispiel die Funktionstrennung von Wohnen und Arbeiten oder die Selbstverständlichkeit des Einzelhauses mit Garten. Mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt: Das Leben im Grünen mit guter Infrastruktur auf der einen Seite nimmt auf der anderen die Zersiedlung des Umlandes und die Abhängigkeit von Automobilität in Kauf.