Dass Herbst ist oder bald sein wird, habe ich dieses Jahr früher im Internet gemerkt als an den Bäumen und Temperaturen in Berlin. Während der Sommer im „Real Life“ einfach nicht aufhören wollte, ist der Herbst im Internet gefühlt überall. Aber warum eigentlich?
Bitte einmal alles in Orange mit Pumpkin Spice
Momentan ist es schwer, am Herbst vorbeizuscrollen. Überall warme Erdtöne oder Schwarz-Weiß (wenn es eher in Richtung Halloween gehen soll), immer mit einer gehörigen Prise Orange: nebliger Wald mit buntem Laub, kunstvoll geschnitzte Kürbisse, ästhetisch angerichtete Heißgetränke, cozy Zeit auf dem Sofa.
Vorne mit dabei: Christian Girl Autumn, ein Hashtag (und Meme) analog zum Hot Girl Summer, unter dem (meist) weiße Influencerinnen mit Pumpkin Spice Latte die Herbstblätter schon im Juli über ihre Feeds rieseln lassen. Der Trend ist mittlerweile so groß und inspiriert so viele Reisen in das herbstliche Vermont, dass manche Orte dort wegen ihrer komplett überforderten Infastruktur schon das Fotografieren verboten haben.
Solche hochkommerzialisierten Beispiele der #FallAesthetics sind kritikwürdig – aber gerade ohne aufwendige Reisen verbinden viele mit der Jahreszeit und dem entsprechend gefärbten Content eine ruhige, gemütliche, um nicht zu sagen eskapistische Atmosphäre.
Herbst im Internet zwischen Cottage Core und Dark Academia
Ein Bedürfnis nach coziness ist nichts Neues im Internet: Der Trend von Cottage Core zum Beispiel geht in die gleiche Richtung. Diese Ästhetik des idyllischen Landlebens ist an sich unabhängig von der Jahreszeit, passt aber natürlich hervorragend in den herbstlichen Eskapismus.
Überhaupt war das Internet schon besessen von nebeligen Straßen, fallendem Herbstlaub, alten Büchern und stilvollen Teetassen, bevor sich dieser vibe unter dem Stichwort Dark Academia versammelt hat. Die Verbindung zwischen Uni und Herbst liegt sowieso auf der Hand: Das akademische Jahr beginnt in der nördlichen Hemisphäre im Herbst. In vielen Büchern, Filmen und Serien, in denen die Charaktere zur Schule oder zur Uni gehen, ist die Jahreszeit nicht nur ästhetischer Backdrop, sondern auch ein Symbol von (Neu-)Anfang.
Herbst: Die beste Jahreszeit?
Zugegeben – ich bin selbst ein großer Herbst-Fan. Als Kind wahrscheinlich einfach deswegen, weil mein Geburtstag im Herbst liegt. Danach, weil ich an der Uni gearbeitet habe. (Die Beschreibungen des herbstlichen Campus zum Semesterbeginn war für mich ein Highlight in Donna Tartts The Secret History.) Jetzt, wo die Uni keine direkte Rolle mehr in meinem Leben spielt, bleibt es meine Lieblingsjahreszeit.
Klar, es regnet viel und wird immer dunkler, aber diese Jahreszeit hat auch offline einige Vorteile: Herbst ist nicht mehr so heiß wie der Sommer und noch nicht so kalt und dunkel wie der Winter. Der spezifische Geruch von Herbstlaub in der Luft nach dem Regen sorgt bei mir sofort für gute Laune und Inspiration. Lesen auf dem Sofa mit einem guten Kaffee? Sign me up.
Der (nicht mehr) konstante Jahreszeitenwechsel
Diesen Text schreibe ich an einem Tag, der im tiefsten herbstlichen Nebel anfing, an dem im Laufe des Vormittags die Sonne rauskam und an dem sich die Luft am besten mit dem englischen Wort crisp beschreiben lässt. Meine Wetter-App sagt: Höchsttemperatur 17 Grad. Die Sonnenstrahlen sind mehr als willkommen nach einigen verregneten Tagen, an denen die Sonne gefühlt gar nicht aufgegangen ist. So weit, so normal herbstlich.
Aber: Es muss eigentlich noch viel mehr regnen auf den ausgedürrten Berliner Boden. Und wie bereits eingangs erwähnt, kommt dieser Herbst nach einem Sommer, der in Berlin gar nicht aufhören wollte, mit Temperaturen regelmäßig über 25 Grad bis weit in den September hinein. Der Klimakollaps lässt (mal wieder) grüßen.
Herbst als Eskapismus verstehe ich sofort. Ich werde mich auch mit einem Buch auf mein Sofa verziehen, wenn dieser Text fertig ist. Aber dass unsere Umwelt und der vermeintlich ewigwährende Jahreszeitenwechsel zunehmend aus den Fugen gerät, zeigt sich eben auch in der Komfortzone Herbst. Ignorieren sollten wir das nicht.