Die autofreie Stadt. Venedig, ein logistischer Reisebericht

Ein Kanal in Venedig, linker Hand zwei historische Gondeln, rechts ein modernes Boot mit Baumaterial, im Hintergrund eine Brücke.

Ich liebe Venedig! Vor etlichen Jahren lockte mich mein Faible für Gegenwartskunst das erste Mal in die Lagune, um die Biennale zu sehen. Seitdem kehre ich mit meiner wachsenden Familie alle zwei Jahre zurück in „la Serenissima“ und bleibe von Mal zu Mal länger. Selbstredend spielt dabei die Biennale mit ihren immer neuen Ausstellungen eine entscheidende Rolle, aber auch die Stadt an sich, die so schön ist und ganz anders funktioniert als andere Städte.

Venedig von oben. Im Vordergrund das Dach der Markusbasilika.Quelle: Christina Grevenbrock
Die Altstadt Venedigs ist komplett autofrei. Aller Verkehr findet zu Fuß oder auf dem Wasser statt.

Die autofreie Stadt

Spricht jemand von der „Stadt“ an sich, sehe ich vor meinem geistigen Auge Häuserschluchten, dazwischen breite Straßen voller Autos. Die „Stadt“ ist heute überall in der Welt nahezu synonym mit der „autogerechten Stadt“. Unsere Städte wurden im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend auf die Bedürfnisse hin umgebaut, die mit dem Automobilverkehr einher gingen. Selbst historische Altstädte wurden so autokompatibel umgestaltet, wie es nur eben ging. Aus meinem Alltag sind Autos genauso wenig wegzudenken: Ich wohne unweit einer Hauptverkehrsstraße, die ich von zuhause aus höre und die ich täglich mehrmals überqueren und mit dem Fahrrad entlangfahren muss.

In Venedig ist das anders. Hier gibt es keine Autos und keine Autostraßen (ausgenommen eines abgegrenzten Teils der Stadt um den Piazzale Roma wo Anreiseverkehr ankommt.) Der Altstadtteil von Venedig ist eine Stadt der Fußgänger:innen und des Schiffsverkehrs. Dadurch ist es eine Stadt ohne Autolärm und die Gefahren, die vom automobilen Verkehr herrühren. Autoabgase und Raum für Parkplätze fallen weg. Wer durch Venedig flaniert, muss nicht ständig um ungenutzte Fahrzeuge herumgehen und sich nicht vor fahrenden Gefährten in Acht nehmen, die viel schneller sind als man selbst. Wie selbstverständlich die Rücksicht auf Straßenverkehr in meinem Leben ist und wie viel Raum sie einnimmt, merke ich erst hier, wenn dieser wegfällt. Zwar muss man sich durchaus vor rempelnden oder überraschend stoppenden Mittourist:innen in Acht nehmen, aber die sind in der Regel deutlich ungefährlicher als ein fahrender Bus. So kann sich auch mein vierjähriger Sohn hier viel freier bewegen als in seiner autogerechten Heimatstadt. Venedig ist eine riesige Fußgängerzone und das führt zu einem völlig anderen und viel entspannteren Stadtgefühl als überall anders.

Ein Transportboot macht sich bereit, eine riesige Kunstkiste an Bord zu hieven. Damit es dabei nicht kentert, wird es mit einem langen Metallpfahl im Kanalboden verankert. Rechts im Hintergrund ist ein Krankentransportboot im Einsatz.Quelle: Christina Grevenbrock
Ein Transportboot macht sich bereit, eine riesige Kunstkiste an Bord zu hieven. Damit es dabei nicht kentert, wird es mit einem langen Metallpfahl im Kanalboden verankert. Rechts im Hintergrund ist ein Krankentransportboot im Einsatz.

Eine Stadt im Wasser

Aber wie funktioniert eine Stadt ohne Autostraßen? Venedig wird jährlich von rund 30 Millionen Tourist:innen besucht. Diese wollen herumkommen, die Menschen, die vom Tourismus leben, müssen zur Arbeit, allerlei Waren und Ressourcen sollen durch die Stadt transportiert werden. Kaum vorstellbar, wie das ohne LKW, Busse, Taxis und Co klappen kann. Statt von Autostraßen wird Venedig von Kanälen durchzogen. Sie bilden die Hauptverkehrswege der Stadt. Alles, was es in „gewöhnlichen“ Städten auf Rädern gibt, fährt in Venedig Boot: Es gibt Wassertaxis, Wasserbusse, Transportschiffe und auch Rettungsdienste, Feuerwehr und Polizei fahren hier auf dem Wasser. Hin und wieder sieht man sogar Bagger-Bötchen fahren.

Die dauersanierte Stadt

Ein häufiger Anblick sind größere Transportboote mit Kranarm voller Baumaterialien und Werkzeuge. Venedig wird regelmäßig von Hochwassern heimgesucht. Die Lage mitten im Wasser bzw. auf sumpfigem Boden ist gleichzeitig Fluch und Segen der Stadt. Venedig ist unheimlich schön, aber die ständige Feuchtigkeit nagt auch an der Bausubstanz. An allen Ecken und Enden bröckeln Steine und Fassaden, gleichzeitig wird überall und ständig renoviert, saniert und instandgehalten. Neben Tourismus und Handel gehört die Bauindustrie zu den prägenden Wirtschaftszweigen der Lagune. Schweres Baugerät a Land zu befördern, ohne dass das Boot kentert, ist eine Kunst an sich, die so wohl nur venezianische Handwerker beherrschen müssen. Mehr als ein Mal haben wir innegehalten, um zu beobachten, wie viel Geschick und Umsicht das braucht.

Viele Transportboote führen Metallpfähle mit, die den „Palina“ ähneln, den Pfosten im Wasser die dazu dienen, dass Boote und Gondeln an ihnen fest machen können. Warum das so ist, habe ich erst verstanden, als ich zugeschaut habe, wie so ein Pfahl benutzt wird: Die Transportboote haben passende Öffnungen, durch die diese Pfähle direkt in den Kanalboden gerammt werden können. Wenn es mit seinem Kranarm sehr schwere Lasten vom Ufer anheben muss, verlagert sich der Schwerpunkt. Das Boot würde kentern, wenn es nicht so fixiert würde.

Ein voll beladenes Transportboot fährt durch die Kanäle Venedigs. Im Hintergrund lädt ein Müllboot die Container der Müllarbeiter:innen.Quelle: Christina Grevenbrock
Die Waren auf diesem Transportboot werden später mit Handkarren weiter verteilt. Im Hintergrund fährt ein Müllboot gerade seinen Kranarm aus, um einen wartenden Sammelwagen zu leeren.

Nichts geht ohne Muskelkraft

Wasserstraßen lassen sich ohne Boot nicht ohne Weiteres überqueren. Daher ist Venedig auch die Stadt der Brücken und Treppen. Daraus folgen weitere Konsequenzen für den Stadtverkehr: Fahrräder und alle Arten von Rollern sind hier den Kindern vorbehalten. Venedig ist, ganz nebenbei, auch eine E-Scooter freie Stadt. Mit Rollstühlen, Kinderwägen und ähnlichem kommt man in Venedig nicht sehr weit. Die Menschen bewegen sich entweder zu Wasser oder zu Fuß durch die Stadt. Jeglicher Warentransport jenseits der Kanäle wird durch Muskelkraft ermöglicht. Tourist:innen schleppen ihre Koffer, Eltern ihre Kinder und die Einheimischen sind mit treppengängigen Trolleys ausgestattet (Postbot:innen verfügen über besondere Posttrolleys). Überall hört man das „Attenzione!“ der zahlreichen Lieferanten, die ihre Waren mithilfe spezieller Handkarren, den Carrelli, durch die engen Gassen der Stadt navigieren.

Die schwimmende Müllabfuhr

Ein mindestens so faszinierender Anblick wie venezianische Schwertransporte ist die Müll-Logistik. Ja richtig gelesen, die Müllabfuhr gehört, mindestens im Urlaub mit Kindern, zu den Attraktionen Venedigs. Jeden Morgen schwärmen hunderte Müllarbeiter:innen, Spazzini, mit ihren mobilen Müllsammelwägen durch die Stadt. Sind die Wägen voll, werden sie zu Sammelbooten gebracht. Dort werden sie von der Bootsführer:in mit einem Kranarm, der den Container an einem Bügel hochhebt, auf die passende Öffnung des Bootes gesetzt. Dort hakt der Wagen ein und eine Klappe am Boden öffnet sich, so dass der Müll direkt in den Bauch des Bootes fällt. Die vielen Besucher hinterlassen jährlich zehntausende Tonnen Müll, den die Spazzini mit ihren Müllbooten aufs Festland transportieren müssen.

Eine venezianische Hausfassade mit einem 49.999 Plakat.Quelle: Christina Grevenbrock
Die 49.999 im Stil der typisch venezianischen Hausnummern weist auf den stetigen Rückgang der Einwohnerzahlen Venedigs hin.

„La Serenissima“ und der Tourismus

Das klingt alles ganz schön mühsam und ist es bestimmt auch. Venedig ist aber nicht umsonst bei Besucher:innen derart beliebt. Die Stadt ist einfach atemberaubend. Wohin man schaut: prächtige Paläste, pittoreske Gassen und verwunschene Ecken. Auch nach zahlreichen Besuchen wird diese Stadt nie langweilig. Und dann ist da noch dieses berühmte Licht. Die vielen Wasserflächen machen etwas mit den Menschen. Auf Wasser zu schauen, ist genauso meditativ, wie auf Feuer zu schauen und das Wasser reflektiert das Licht, das dann mit den Fassaden der Paläste spielt.

Wie großartig und besonders die Lagunenstadt ist, habe nicht nur ich begriffen, sondern vor und mit mir wohl Milliarden von Reisenden. Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle Venedigs, übermäßiger Tourismus sorgt aber auch für Probleme. Die Stadtverwaltung wirkt dem entgegen, indem mittlerweile höhere Gebühren fällig werden und große Kreuzfahrtschiffe nicht mehr ins historische Zentrum fahren dürfen.

49.999

Die Zahl der Tourist:innen übersteigt die Zahl der Einheimischen bei weitem. Das Verhältnis kippt zusehends. Aktuell finden sich überall in Venedig rätselhafte Schilder mit der Zahl 49.999, aufgemacht wie eine typische Hausnummer, in den Gassen. Sie sollen darauf aufmerksam machen, dass die Einwohnerzahl langsam unter die 50.000er Marke rutscht – und das ist mit Konsequenzen für die Stadtlogistik verbunden. Auf den ersten Blick scheint das nicht dramatisch, wird der Mangel an Einheimischen doch durch Besucher:innen kompensiert. An Supermärkten, Gastronomie und öffentlichem Transport wird es deshalb absehbar wohl kaum mangeln. Aber anders als Einwohner:innen benötigen Tourist:innen eben auch keine Schulen, Kindertagesstätte, Bestattungsunternehmen, Spezialgeschäfte und Ärzte nur sehr eingeschränkt.

Ein Ambulanzbild braust durch die Kanäle Venedigs.Quelle: Christina Grevenbrock
In Venedig gibt es alles, was „normale“ Städte auch haben, aber auf dem Wasser. Hier rettet ein Ambulanzboot Menschenleben.

Von Venedig lernen

Das Beispiel Venedigs ist natürlich nicht eins zu eins auf andere Städte übertragbar. Niemand will London fluten und damit endlich Autos aus dem Stadtbild vertreiben. Oder den Fahrradverkehr in Amsterdam verbieten. Aber immer, wenn mir Expert:innen erzählen, dass motorisierter Autoverkehr alternativlos sei, fällt mir Venedig ein und ich denke „nö“. Diese eine Stadt zeigt, dass es auch anders geht und mit ein bisschen Erfindungsgeist und Anpacken schon seit ein paar Hundert Jahren funktioniert. Nun ist „La Serenissima“ sicherlich auch kein leuchtendes Vorbild in Sachen Nachhaltigkeit – das machen andere Städte besser. Aber sie ist ein pulsierender, lebendiger Beleg dafür, dass eine Stadt auch ganz anders funktionieren kann. Darauf einen typisch venezianischen Aperol Spritz!

Christina

Mag Kunst, Gemüse und Nachhaltigkeit.

1 Kommentar

  1. Ich bin voll und ganz bei deinem Artikel. Ich habe gestern noch mit einem älteren Venezianer gesprochen und er meinte, für wäre das Schönste an der Stadt nicht die Wasserlage oder die Architektur, sondern, dass es keine Autos gibt. Andere Städte in Italien hielte er nicht lange aus. Was mir krass aufgefallen ist: Es gibt ja auch keine Ampeln. Das bedeutet, dass man als Fußgänger von seinem Start einmal quer durch die gesamte Stadt zum Ziel exakt Null Mal anhalten muss, wenn man nicht will. Ein tolles und befreiende Gefühl.

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